Kaum drei Minuten dauert das Chaos, dann ist der Tornado genauso plötzlich weg, wie er gekommen ist. Er hinterlässt eine Schneise der Verwüstung, rechts und links davon ist nicht mal ein Blümchen geknickt.
Schlüchterns Feuerwehr im Auge des Tornados: Es ist gegen 19.35 Uhr, als sich die Unwetterfront am Montag von Westen auf die ehemalige Kreisstadt zubewegt. In Hanau oder Gelnhausen hat die Gewitterfront zumeist nur ein paar Keller unter Wasser gesetzt. Eine generelle Unwetterwarnung gibt es nicht. Am 100 Meter entfernten Sportplatz beobachten die Fußballer der SG Schlüchtern derweil einen „Schlauch“ am Himmel, brechen das Training ab und flüchten in die Umkleide.
Ein Teil der Wehr ist da gerade auf dem Rückweg von einem Einsatz im Gewebegebiet: In einer Schreinerei hatte ein falsch bedienter Brennkessel Rauchalarm verursacht. Am Stadteingang pustet der Wind die ersten Bäume um, eine ältere Frau klammert sich an einer Ampel fest. Die Männer ziehen sie ins Löschfahrzeug.
Derweil bricht um die Feuerwehrzentrale Chaos aus. Pressesprecher Axel Ruppert verspürt einen Sog. Gruppenführer Rolf Liebig lässt gerade die vier geöffneten Tore herunter. Eine Druckwelle baut sich auf. Fenster fliegen zu. Durch eine Scheibe schießt ein Dachziegel durch den Raum. Vier Einsatzkräfte retten sich in den Nachbarraum. Es folgt ein Getöse. Sekunden später ist ein Teil des Daches abgedeckt, und die Ziegel prasseln auf den Vorplatz, wo die Feuerwehrleute Privatfahrzeuge geparkt haben.
„Die Scheibe vor mir hat sich gebogen“, erzählt Liebig und beobachtet, wie eine 25 Meter hohe Platane von der Windhose niedergedrückt wird – und bricht. Dann ist die Funkverbindung tot. Auch der Mast auf der Stützpunktfeuerwache ist auf eine Länge von acht Metern wie ein Streichholz abgeknickt.
Minuten später hat sich der Tornado weiter östlich über dem Stadtteil Herolz quasi wieder in Luft aufgelöst. Für die Feuerwehren aus den umliegenden zwölf Stadtteilen beginnt eine fünfstündige Sonderschicht. 250 Helfer – vom THW aus den Nachbarstädten Steinau und Bad Orb sowie vom DRK und Malteser – sind bis gegen 1.30 Uhr im Einsatz, um eine schmale Schneise der Verwüstung wieder passierbar zu machen. Etwa 400 Meter lang und 50 Meter breit ist der Streifen, auf dem sich der Tornado ausgetobt hat, schätzen die Helfer.
„Es grenzt an ein Wunder, dass niemand verletzt wurde“, bilanziert Einsatzleiter Kress am Dienstagvormittag. Überall sind Aufräumarbeiten im Gange. 28 Autos auf dem Parkplatz weisen schwere Blechschäden auf. Überall schimmern kleine Glaskristalle geborstener Scheiben.
50 Dächer sind nach ersten Schätzungen zerstört. Mal sind nur ein paar Ziegel verschoben, an anderer Stelle klaffen Löcher von mehreren Metern Durchmesser. Entlang der Kinzig und in Gärten sind Dutzende von Bäumen entwurzelt. In der alten Bahnhofstraße hat plötzlich „das ganze Haus gewackelt“, schildert Ines Philippi, die im Hof aufräumt. Während es im Garten wie nach dem Orkan Kyrill aussieht, hat das Haus praktisch keinen Kratzer abgekommen. Ähnlich zeigt sich das Phänomen andernorts. Einem Getränkehändler hat es das Dach schwer zerzaust, während gegenüber in einem Rosengarten nicht eine Blume abgeknickt ist. Gegenüber der Feuerwehr am Untertor hat es der Eisdiele nicht einen Schirm weggeweht. Auf dem Sportplatz hat es das Aluminiumgestell der Wurfanlage umgedrückt und die zentnerschwere Hochsprungmatte fortgeweht.
„Wenn die Welt mal kurz untergeht“, titeln die örtlichen „Kinzigtal-Nachrichten“ am Dienstag über die ersten Unwetterausläufer. Doch die 17500-Einwohner-Stadt im Dreieck von Spessart, Rhön und Vogelsberg, auch Bergwinkel genannt, ist mit einem blauen Auge davon gekommen.
Schätzungen über die Schadenshöhe schwanken von mehreren Hunderttausend bis zu einigen Millionen Euro. Die ersten Dächer sind schnell repariert. Auch die Feuerwehr hat es eilig. „Am Wochenende ist Tag der offenen Tür, da soll alles wieder in Ordnung sein“, sagen Innenstadt-Wehrführer Jens Orth und Vorgänger Heinz-Jürgen Jost. „Die Fahrzeugflotte, die den Brandschutz von Bad Soden-Salmünster bis Sinntal sicherstellen soll, ist unversehrt“, freut sich Gerätewart Winfried Mörscheid.
Derweil rätseln vom Tornado Betroffene, was die Versicherung bezahlt. Der Kontakt fällt nicht leicht. „Die haben noch mit dem Neißehochwasser zu tun“, berichtet ein junger Mann. Eine Nachbarin am Gartenzaun hat ein anders Problem. „Wohin mit den ganzen kaputten Dachziegeln?“, fragt sie.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen